Zeichnung Yogapraxis

Yoga – ein Alltagsritual

Die beste Motivation für eine eigene Yogapraxis ist das gute Gefühl danach. Nach einer runden Yogastunde fühlt sich alles ein wenig besser an als vorher. Der Atem fliesst freier, die Stimmung ist besser, Körper und Geist sind beweglicher.

Was macht dieses gute Gefühl aus? Dafür gibt es sicher mehrere Gründe. Ein wichtiger Grund ist der Rückzug aus der alltäglichen Routine.

Yoga zu üben ist wie ein Ritual. Ein Ritual im Alltag und doch ausserhalb des Alltags. Ein Ritual, das uns aus dem Alltag heraushebt. Jede Yogapraxis – egal ob in der Gruppe oder alleine zuhause geübt – schafft einen ganz eigenen Raum. Einen Raum, in dem wir uns eine Auszeit nehmen können von dem, was uns im Alltag beschäftigt und eine Zeit, in der wir nur mit uns sein können.

Es ist der moderne körperbetonte Yoga, mit dem wir uns diese Auszeit verschaffen können. Den Begriff «Modern Postural Yoga» hat die Religionswissenschaftlerin Elisabeth De Michelis vor etwa 16 Jahren geprägt, nachdem ihr aufgefallen war, dass der Yoga den wir heute üben, etwas ganz anderes ist als die Formen des Yoga in der Vergangenheit (De Michelis, 2008).

Die moderne Yogaklasse, wie wir sie heute erleben, ist ein relativ neues Phänomen; ungefähr hundert bis höchstens hundertfünfzig Jahre alt. Beginnend mit den Pionieren des modernen Yoga, Shri Yogendra, Swami Kuvalayananda und schliesslich auch T. Krishnamacharya, hat sich diese Form der Yogapraxis über die Jahrzehnte in Indien und im Westen etabliert.

De Michelis bezeichnet den heutigen Yoga als ein 'Ritual der Heilung' das in drei Abschnitte aufgeteilt ist. Diese drei Abschnitte haben sehr viel Ähnlichkeit mit einer Struktur, die immer wieder in kulturellen Übergangsritualen auf der ganzen Welt zu finden ist und die der Ethnologe Arnold van Gennep 1909 als charakteristisches Muster der «Rites de Passage» beschrieben hat (Van Gennep, 2010).

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In der ersten Phase – Trennung - ziehen sich Yoga-Übende aus der Alltagswelt zurück und begeben sich in einen neutralen Raum. Hier kann ich alles hinter mir lassen: Dinge und Menschen für die ich Verantwortung trage, Ängste und Sorgen, die Erwartungen von Anderen. Alles, was mich belastet, kann ich zusammen mit meinen Schuhen vor der Tür zurücklassen. Im ruhigen Sitz am Beginn einer Yogastunde lasse ich die äussere Welt hinter mir und trete ein in eine innere Welt.

In der zweiten Phase – Übergang - übe ich eine körperbetonte Praxis aus Bewegung und Atmung. Hier lerne ich, mich auf eine andere Art zu bewegen als im Alltag und anders wahrzunehmen. Ich bewege mich und werde gleichzeitig still, horche in mich hinein. Die Handlungen in diesem 'rituellen' Raum können körperlich und psychisch verändernd wirken und mich stärken, aber auch herausfordern. Es ist eine Phase in der ich anders bin, zwischen den Welten.

Die dritte und letzte Phase – Eingliederung - ist eine Zeit der Ruhe und Erholung, aber auch eine Zeit der Rückkehr in das 'normale' Leben. Am Ende einer Yogapraxis liegen wir meist in «shavasana», einer symbolisch mit dem Tod verbundenen Haltung, auf dem Rücken und üben uns in Hingabe, Entspannung, Regeneration. Wir lassen die Veränderung durch die Bewegung, die Atmung und die bewusste Wahrnehmung in unseren Körper einsinken, um anschliessend ein wenig verändert in die 'normale Welt' zurückzukehren.

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Die moderne Yogapraxis ist sehr gut an die Bedürfnisse der gegenwärtigen Zeit angepasst. Und gleichzeitig erfüllt sie offenbar tief verwurzelte menschliche Sehnsüchte. Sie erzeugt eine Leichtigkeit in Körper und Geist, die gut tut, und ein Gefühl von Verbundenheit mit uns selbst. Dieses Gefühl ist keine Einbildung, sondern eine neurobiologische Tatsache. Es beschreibt die Erfahrung des Embodiment, der Verkörperung. Denn alle unsere Erfahrungen sind verkörperte Erfahrungen und je besser wir es schaffen, unsere Bewegungsgewohnheiten zu überwinden, desto näher kommen wir an unser ursprüngliches Selbstgefühl heran.

Gerald Hüther, Neurobiologe aus Deutschland, vergleicht einen durch viele negative Emotionen geprägten Körper mit einem schiefen Haus (Hüther, 2006). Dort, wo das ursprüngliche Selbstgefühl eines gesunden Kindes mehr und mehr von den Forderungen der Aussenwelt eingeschränkt wird, entwickelt sich aus dem Körper ein 'schiefes Haus'. Neue Verschaltungsmuster in Körper und Gehirn passen nicht mehr zu den eigenen Mustern, zu unserem eigenen, tief empfundenen Körper-Selbst. Das passiert jedem von uns, durch Erziehung. Aber zum Glück wird unser Erleben von uns selbst und von unseren Erfahrungen mit unserer Mitwelt ständig neu kreiert. Wir haben also immer wieder die Chance, unsere Erfahrungen, unseren Körper und unser Selbst neu auszurichten.

Die moderne Form des Yoga ist ein idealer Weg, um wieder einen Zugang zu sich selbst zu finden. Im Alltagsritual des Yoga wird die Aufmerksamkeit geweckt, verschiedene Sinneskanäle werden angesprochen, unser Lernen wird durch positive Emotionen unterstützt und die Bewegungen sind neu genug, damit sie verkrustete Gewohnheiten lösen können, knüpfen aber gleichzeitig an vorhandenes Körper-Wissen an. Machen wir uns als Übende also immer wieder bewusst, wie gut wir uns nach einer Yogastunde fühlen, dann haben wir die Chance, unser 'schiefes Haus' wiederaufzurichten und zu uns selbst zurückzufinden.

Literatur

Gerald Hüther – Wie Embodiment neurobiologisch erklärt werden kann, in: M. Storch, B. Cantieni, G. Hüther, W. Tschacher - Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. S. 75-97, Verlag Hans Huber, Bern, 2006

Elisabeth De Michelis – A History of Modern Yoga. Continuum, New York, 2008

Arnold Van Gennep – The Rites of Passage. Routledge, London, New York, Reprinted 2010

Short & Sweet

  • Yoga, wie wir ihn heute üben, ist wie ein Ritual im Alltag.
  • Die Wissenschaftlerin Elisabeth De Michelis bezeichnet den modernen Yoga als "Ritual der Heilung".
  • Dieses Ritual besteht aus drei Phasen: dem Rückzug aus dem Alltag, dem Übergang in eine andere Art der Wahrnehmung und der Regeneration und Rückkehr in die 'normale Welt'.
  • Aus neurobiologischer Sicht, besteht eine Wirkung des Yoga in der Möglichkeit eingefahrene Gewohnheitsmuster zu lösen und durch neue Erfahrungen leichter zu unserem ursprünglichen Körper-Selbst zurückzufinden.